Startup: LunarAlumni entwickeln KI-gestützte Sehhilfe für Blinde
15. November 2025, von Denise Longe

Foto: Lunar-Team
Drei Alumni der University of Hamburg Business School berichten in einem Interview über ihre Arbeit an einer KI-gestützten Sehhilfe, für die sie das Unternehmen Lunar gegründet haben. Seit 1. Oktober wird das Team durch EXIST gefördert.
Ehemalige Studierende der University of Hamburg Business School haben aus einem Universitätsprojekt heraus im Jahr 2024 angefangen, an Lunar zu arbeiten – inzwischen ein Start-up, das eine KI-gestützte Sehhilfe für Blinde entwickelt. Die drei Gründer Lukas Ganss, Alejandro Poiqui und Timon Pitz profitieren seit dem 1. Oktober von einer EXIST-Förderung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWE), kofinanziert durch den Europäischen Sozialfonds (ESF). Diese Unterstützung ermöglicht es ihnen, ihre Lösung weiterzuentwickeln und sich voll auf die Selbstständigkeit zu konzentrieren. Im Gespräch haben wir die Gründer zur Entstehungsgeschichte ihrer Idee und zu ihren Zukunftsplänen befragt.
Alle drei haben Sie ein gutes Sehvermögen. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Sehhilfe für Blinde zu entwickeln?
Lukas Ganss: Der eigentliche Auslöser war eine Situation während der Bauernstreiks in Hamburg letztes Jahr: Der Busverkehr fiel aus und ich sah an der Haltestelle „Dammtor“ eine blinde Person stehen, die offenbar auf ihren Bus wartete. Sie versuchte, über ihr Handy Updates zu erhalten, allerdings fehlte die Information über den aktuellen Ausfall. Ich machte sie darauf aufmerksam und stellte im weiteren Gespräch fest, dass trotz der technischen Entwicklungen eine zuverlässige Lösung für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung zu fehlen scheint.
Dem kam sehr gelegen, dass wir drei Gründer uns kurze Zeit später im Master Modul „Digital Innovation Lab“ zusammenfanden und im Zuge dessen eine technische Lösung aus Hardware und Software entwickeln sollten. Nach ausgiebigem Brainstorming und Ideen, wie einem selbstsortierenden Mülleimer, stand für uns ziemlich schnell fest, dass wir uns dem Thema der Blindenhilfe widmen möchten. Durch die neuesten AI-Entwicklungen und aufgrund familiärer Betroffenheit waren wir entschlossen, eine innovative Lösung gestalten zu können.
Wie kann Ihre Sehhilfe blinde Personen unterstützen?
Timon Pitz: Wir möchten Sehbehinderten bei verschiedensten Situationen im Alltag helfen. Daher entwickeln wir ein modulares, tragbares KI-Gerät, das die Informationen, die ein sehender Mensch mit den Augen erfassen würde, in Audio umwandelt. Der Nutzer trägt hierbei einen Knopf beispielsweise am Blindenstock und eine kleine Kamera-Komponente am Kopf. Auf Knopfdruck wird durch die Kamera die Umgebung gescannt und die Daten werden von künstlicher Intelligenz (KI) analysiert. Nur Sekunden später erhält der Nutzer über den eingebauten Lautsprecher oder das Bluetooth-Gerät seiner Wahl (z. B. Knochenschall Kopfhörer) eine natürlich klingende Beschreibung der Umgebung mit Fokus auf für blinde Personen besonders relevante Informationen.
Mit der resultierenden Audioausgabe unterstützt LV01, das ist der Arbeitsname unseres Prototypen, blinde und sehbehinderte Personen im Alltag: indem das Gerät Texte vorliest, Objekte erkennt, Geldscheine und Münzen unterscheidet und hilft, sich in neuen Umgebungen zurechtzufinden.
Da Menschen mit Sehbehinderung häufig besonders für die oben genannten Aufgaben im Alltag auf Hilfe angewiesen sind, stärkt LV01 die Unabhängigkeit und sorgt so bei Nutzerinnen und Nutzern für mehr Selbstständigkeit, um die Lebensqualität zu verbessern.
Was genau machen Sie anders als die Konkurrenz?
Alejandro Poiqui: Der Markt für Hilfstechnologie für sehbehinderte und blinde Menschen existiert und wächst stark dank der Fortschritte in KI-Technologien. Wir setzen in unserem Produkt die neueste generative KI ein und präzises Text-To-Speech. Durch einzelne verfügbare Module erhöhen wir die Flexibilität und Skalierbarkeit unserer Architektur, können sie also leicht erweitern oder an neue Funktionen, Geräte oder Nutzerzahlen anpassen. Ist das Licht schwach, arbeitet LV01 besser als Produkte der Mitbewerber. Ein weiterer Unterschied, durch den wir uns abheben, ist das ergonomische und leichte Design, das eine intuitive Steuerung bietet. Außerdem ist unser Gerät auch im Offline Modus einsatzbereit. Das ist wichtig, beispielweise im Flugzeug, Tunneln oder anderen abgeschirmten Bereichen. Und zuletzt spielen auch die Kosten eine Rolle: Auf dem Markt befindliche Geräte sind oft teurer.
Wie reagieren potenzielle Kundinnen und Kunden auf Ihren Prototypen?
Ganss: Tatsächlich sehr positiv. Dazu muss man sagen, dass wir bisher nur Testreihen mit unserem ersten Prototypen durchführen konnten, der sich vor allem auf die Basisfunktion beschränkte. Mit dem nächsten, umfassenderen Prototypen sind weitere Reihen für Ende des Jahres und darüber hinaus geplant. Wir hatten zudem schon die Möglichkeit, vor Zielpublikum die zukünftige Anwendung unseres Gerätes zu simulieren. Dabei haben wir enorm viel wertvolles Feedback erhalten und sind in unserem Vorhaben deutlich gestärkt worden.
Wie hat Ihnen das Digital Innovation Lab an der Uni Hamburg unter Leitung von Prof. Dr. Jan Recker, Nucleus-Professor für Information Systems and Digital Innovation, und Dr. Lucas Göbeler dabei geholfen, Ihre Entwicklung umzusetzen? Und: Gab es weitere Förderer oder Mentorinnen oder Mentoren im Uni-Umfeld?
Poiqui: Das Digital Innovation Lab war für uns der entscheidende Ausgangspunkt. Ohne den Kurs hätten wir drei uns vermutlich nie kennengelernt. Die interdisziplinäre Teamarbeit, Design-Thinking-Methoden und die Ausrichtung auf Nachhaltigkeitsziele haben uns nicht nur zusammengebracht, sondern auch die Grundlage für LV01 gelegt. Besonders wertvoll war die Begleitung durch Prof. Dr. Jan Recker und sein Team mit Lucas, Johanna und Imke: Workshops, Feedback-Runden und die praxisnahe Methodik haben uns geholfen, aus einer ersten Idee einen funktionierenden Prototyp zu entwickeln. Auch die Ausstattung im Coworking Space war hilfreich, von Elektronik und Druckern bis hin zu offenen Arbeitsflächen, die spontanen Austausch ermöglichten. Mit unserem ersten MVP (Minimum Viable Product) aus dem Digital Innovation Lab gelang uns schließlich der Sprung in den Ideation Batch des AI.Startup.Hub Hamburgs, was den nächsten Impuls für unsere Reise gab.
Neben dem Digital Innovation Lab-Team haben wir auch weitere Unterstützung bekommen, beispielsweise von Juliane Mietke, Gründungsberaterin aus der Transferagentur, und Imme Godthardt, ehemalige Gründungsberaterin und jetzt Managing Director der University of Hamburg Business School. Sie haben uns bei der Vorbereitung des EXIST-Antrags geholfen und wertvolles Feedback gegeben. In einer späteren Phase hat uns zudem Frauke Nesemann, damals in der Transferagentur, geholfen, die Abstimmungen mit dem Projektträger Jülich reibungslos vorzubereiten, sodass wir im Oktober mit dem Gründungsstipendium starten konnten. Diese enge Vernetzung innerhalb der Uni hat für uns den entscheidenden Unterschied gemacht, um aus einem studentischen Projekt ein gefördertes Gründungsvorhaben zu entwickeln.
Sie waren zu Beginn des Projektes alle noch Studierende. Wie haben Sie es geschafft, gleichzeitig das Studium und die Weiterentwicklung von LV01 voranzutreiben?
Pitz: Kurz nachdem unsere Idee für LV01 entstanden ist, konnte Alejandro sein Masterstudium schon abschließen. Lukas und ich waren zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten im Masterstudium und hatten somit vorerst die Möglichkeit, in den darauffolgenden Semestern weniger Veranstaltungen zu wählen, um uns stärker auf Lunar fokussieren zu können.
In dieser Zeit ermöglichte uns speziell die Teilnahme am AI.Startup.Hub, uns weiterzuentwickeln und ein Netzwerk aufzubauen. Für die Annahme der EXIST-Förderung im Anschluss waren wir beide jedoch dann gezwungen, uns exmatrikulieren zu lassen, da diese nicht für Studenten in dem Umfang möglich ist. Wir sind somit ein größeres Risiko eingegangen, wollten und mussten diese Chance jedoch für uns nutzen.
Was waren die größten Herausforderungen in der ersten Zeit?
Poiqui: Es gab viele. Beispielsweise wollten wir früh Nutzerfeedback einholen, was logistisch und zeitlich tricky war. Die Herausforderungen von Kaltakquise, Terminfindung und Vor-Ort-Tests haben wir dann gelöst durch Online Meetings, Letter of Intents, Partnerschaften mit Blindenverbänden. Weitere Tests sind für Ende des vierten Quartals geplant.
Was die Bürokratie anbetrifft, so waren gerade die Förderanträge, beispielsweise für EXIST anfangs eine Hürde, weil wir uns in viele Formalitäten einarbeiten mussten. Darüber hinaus mussten wir erst einmal eine passende Organisationsstruktur aufbauen, um eine nachhaltige Startup-Skalierbarkeit zu gewährleisten, um also unser Unternehmen auch wachsen lassen zu können.
Pitz: Ich habe es als Herausforderung erfahren, unsere Vision auf einen Nenner zu bringen. Wir mussten also die Vorstellungen der Zukunft unseres Produktes und des Unternehmens in Einklang bringen. Außerdem für mich eine Challenge: Die klare Abgrenzung zur Konkurrenz durch Innovation.
Seit 1. Oktober werden Sie mit finanziellen Mittel aus der EXIST-Förderung unterstützt. Was genau bedeutet das für Sie?
Poiqui: Die Absicherung der EXIST-Förderung war unserer Plan A und ist aus verschiedenen Gründen für uns entscheidend: Wir können uns jetzt 100 % auf LV01 konzentrieren, ohne generelle und ständige Geldsorgen. Wir alle haben unsere Jobs gekündigt. Neben unserem Lebensunterhalt können wir auch erste Projektbudgets damit finanzieren.
Die Förderung gibt uns außerdem die Zeit, um Prototypen zu entwickeln. Wir kommen schneller ans Ziel, haben bessere Testgeräte und können mehr Nutzerstudien durchführen. Letztendlich können wir den Schritt vom Uni-Projekt zum echten Startup machen. Gleichzeitig ist EXIST ist ein starkes Qualitäts- und Vertrauenssignal nach außen für investierende, Partner oder potenzielle Nutzende.
Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?
Ganss: Für ein Startup unserer Größe ist es aktuell am wichtigsten, so agil wie möglich zu bleiben, da sehen wir unseren Vorteil. Wir haben eine konkrete Vorstellung davon, in welche Richtung sich KI-Technologien entwickeln werden und bereiten uns auf verschiedene Szenarien vor.
Unser aktueller Fokus liegt speziell auf der Weiterentwicklung und Markteinführung von LV01 im vierten Quartal 2026, da wir wirklich davon überzeugt sind, das Leben von Millionen Menschen bereichern zu können. Hierbei ist es uns besonders wichtig, die finanzielle Hürde für Betroffene zu senken, indem wir möglichst schnell von Krankenkassen in den Hilfsmittelkatalog aufgenommen werden und so eine Übernahme der Kosten gewährleisten können. Des Weiteren planen wir, verstärkt in Kontakt mit verschiedenen Blinden- und Sehbehindertenverbänden zu treten, um möglichst viel Feedback zu sammeln und durch direkte Zusammenarbeit ein optimales Produkt zu schaffen.
Intern ist zudem ein KI-Tool entstanden, welches enorm nützlich für uns ist und auch für andere Unternehmen sein könnte. Unsere Überlegung ist daher, mit einer Veröffentlichung des Tools parallel die Weiterentwicklung von LV01 und Lunar zu unterstützen. Wir haben große Pläne, aber möchten vor allem gesund, fokussiert wachsen und dabei ein nachhaltiges, starkes Unternehmen aufbauen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Zu den Gründern:
Alejandro Poiqui
Höchster Studienabschluss: M.Sc. Betriebswirtschaft (Business Administration) mit Schwerpunkt in Operations- & Supply Chain Management, University of Hamburg Business School, 2021-2024
Herkunftsland: Bolivien
Timon Pitz
Höchster Studienabschluss: B.Sc. Wirtschaftsinformatik mit Schwerpunkt Software Engineering, Duale Hochschule Baden-Württemberg Mannheim, 2018-2021
Herkunftsland: Deutschland
Lukas Ganss
Höchster Studienabschluss: B.Sc. Wirtschaftsinformatik mit Schwerpunkt Software Engineering, Duale Hochschule Baden-Württemberg Mannheim
2018-2021
Herkunftsland: Deutschland
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